Mein Herz, was möchtest Du mir sagen?

„Brich auf, solange Du kannst, zum Land Deines Herzens.“ Der große Liebesmystiker Melvana Rumi wusste, dass die Antworten unseres Lebens im Herzen zu finden sind. Wie aber können wir, die wir die meiste Zeit im Kopf leben, wieder in Kontakt mit unserem Herzen kommen und dessen Stimme vernehmen?

Das große Herz

In allen Weisheitstraditionen der Welt gilt das Herz als das Zentrum von Liebe, Mitgefühl und Weisheit und damit als das Tor zum wahren Selbst. „Wenn Du das Geheimnis des Buddhismus wissen möchtest, hier ist es: Alle Dinge sind im Herzen“, schrieb Zen-Meister Ryokan, und der indische Weise Ramana Maharshi sagte: „Das ganze Universum ist im Körper enthalten, der ganze Körper im Herzen. So ist das Herz der Kern des ganzen Universums“. Die christliche, jüdische und islamische Mystik eint die Überzeugung, dass das Herz der Ort ist, an dem der göttliche Funke des Menschen beheimatet ist. Dass das Herz weit mehr ist als die mechanische Pumpe, auf die es seitens der modernen Medizin reduziert wurde, bestätigt uns mittlerweile auch die Wissenschaft. Forschungen aus der Neurowissenschaft belegen, dass das Herz über ein eigenes Nervensystem verfügt, das große Ähnlichkeit mit dem des Gehirns aufweist. Das Herz fühlt also nicht nur, es denkt auch. Seine Zellen besitzen ein eigenes Gedächtnis und sind dazu in der Lage, Informationen zu speichern und auszutauschen. Experimente am kalifornischen HeartMath-Institut machten sichtbar, dass das Herz ein pulsierendes elektromagnetisches Feld erzeugt, das noch mehrere Meter vom Körper entfernt gemessen werden kann und von dessen Wellen Informationen übertragen werden. Wenn wir in Kontakt mit unserem Herzen sind, so legen diese Forschungsergebnisse nahe, werden wir Teil eines mächtigen Energiefelds, das nicht nur unser eigenes Leben vertieft, sondern uns zugleich mit den Menschen um uns herum auf unmittelbare Weise verbindet.

Das Herz wahrnehmen

Diese Herzvisualisierung kann Dich darin unterstützen, in Kontakt mit Deinem Herzen zu kommen und mehr über seine Befindlichkeit zu erfahren. Schließe hierfür die Augen und visualisiere Dein Herz. Betrachte dieses mit deinem inneren Auge. Wie sieht es aus? Welche Farbe hat es? Ist es groß oder eher klein? Sieht es lebendig und gesund aus oder zeigt es Zeichen der Schwäche? Pulsiert es kräftig oder pocht es zaghaft? Wie ist seine Oberfläche beschaffen? Hat es Risse, offene Stellen, Wunden? Zeigt es Bruchstellen? Nimm dieses Bild Deines Herzens ganz bewusst in Dich auf.

Auf dem Weg des Herzens

Zum Herzen, so sagt ein türkisches Sprichwort, führen nicht große Straßen, sondern die stillen Wege. Deshalb begeben sich Menschen, die sich vor eine wichtige Entscheidung ihres Lebens gestellt sehen oder sich in einer Lebenskrise befinden, häufig auf einen Weg nach innen. Manche brechen dann zu einer Pilgerwanderung auf, andere begeben sich auf einen Selbsterfahrungstrip nach Indien oder eine stille Wandertour durch die Alpen. Von jeher haben Menschen Berge erklommen, Ozeane überquert und Wüsten durchlaufen, um zu sich selbst zu kommen. Wir können aber auch weniger spektakulär Einkehr halten bei uns selbst, indem wir uns morgens auf unser Meditationskissen setzen, mittags entspannt auf der Parkbank in die Sonne blinzeln oder beim täglichen Waldspaziergang in die Stille lauschen. Zweifellos erfordert es Mut, dem Ruf des Herzens zu folgen. Denn er lockt uns in unbekanntes Territorium. Wo mag er uns wohl hinführen, fragen wir uns verunsichert. Und wie finden wir ihn überhaupt? Manchmal ist er so tief in uns verborgen, dass wir ihn noch gar nicht recht erkennen können. Ein anderes Mal eröffnen sich mehrere Wege und wir wissen nicht, welchen wir wählen sollen. Dann mag es hilfreich sein, den Rat von Susanna Tamaro aus ihrem Buch Geh, wohin dein Herz dich trägt zu beherzigen: „Wenn sich dann viele verschiedene Wege vor dir auftun, und du nicht weißt, welchen du einschlagen sollst, dann überlasse es nicht dem Zufall, sondern setze Dich hin und warte. Lausche still und schweigend auf Dein Herz. Und wenn es dann zu Dir spricht, dann steh auf und geh, wohin Dein Herz Dich trägt.“

Mein Herz, mein Herz, was möchtest du mir sagen?

Suche jeden Tag ganz bewusst den Kontakt zu Deinem Herzen. Befrage es, was es Dir mitteilen möchte. Je intensiver der Kontakt zu Deinem Herzen ist, desto klarer kann sich dieses Gehör verschaffen. Am besten richtest Du gleich morgens nach dem Aufwachen die Bitte an Dein Herz, dass es Dich mit seiner Weisheit durch den Tag begleiten möge. Frage es, welche Vision es für den heutigen Tag hat und wonach es sich sehnt. Hilfreich ist es, wenn Du deine Hände auf den Brustbereich legst. Mit dieser Geste sammelst Du die Energie im Herzen. Rufe dann das Herz bei seinem Namen und bitte es darum, dass es mit Dir spricht: „Mein Herz, mein Herz! Was möchtest Du mir sagen?“ Das Herz kann nur dann mit uns Kontakt aufnehmen, wenn wir die Verbindung herstellen. Es wartet nur auf diese Gelegenheit, sich zu Wort melden zu dürfen. Vielleicht schreibst Du danach alles auf, was du erfahren hast. Vielleicht verspürst Du auch den Wunsch, ein Herz-Tagebuch anzulegen, in dem Du die Botschaften Deines Herzens aufbewahrst.

Der Sinn liegt im Herzen.

Ein gelingendes Leben heißt, das Potenzial des Herzens zu entfalten und sich dabei anderen Menschen verbunden zu fühlen. Sicherlich kennst Du das Gefühl, mit ganzem Herzen für eine Sache zu brennen, begeistert zu sein von dem, was man tut, sich mit vollem Engagement für etwas einzusetzen, gemeinsam mit anderen Menschen über sich selbst hinauszuwachsen und sich in Wertschätzung miteinander verbunden zu wissen. ‚Selbsttranszendenz‘ nannte der Psychoanalytiker Viktor Frankl diese Fähigkeit des Menschen, aus sich herauszutreten und in der Hingabe an etwas Größerem aufzugehen. Dies sind die bewegenden Momente unseres Menschseins und je mehr wir von diesen erleben, desto erfüllter ist unser Leben. Wir erfahren ein tiefes Gefühl von Sinnhaftigkeit und Verbundenheit. Und darum geht es doch: Vertrauen in das Leben und die Menschen zu setzen. Die Liebe zu stärken und die Angst zu schwächen. Sich verbunden zu wissen mit anderen. Sich ihnen fürsorglich und mitfühlend zuwenden. Bereit zu sein, sich auch einmal fallen zu lassen, und zu erfahren, dass das Leben trägt. Sich in einem größeren Ganzen aufgehoben und geborgen zu wissen. Die Achtung und Ehrfurcht vor allem Lebendigen wiederzuentdecken. Und sich nicht mehr länger getrennt von der Welt und den Menschen zu erleben. So wird die Einkehr in das eigene Herz zur Heimkehr in den tiefen Urgrund des Lebens.

Die Liebeskraft des Herzens stärken

Ziehe Dich für diese Übung an einen ruhigen und ungestörten Ort zurück. Schließe die Augen und entspanne Dich. Lenke nun die Aufmerksamkeit auf Deine Herzgegend und atme einige Male tief in das Herz ein und aus.

Erinnere Dich nun an Gefühle von Liebe und Zuneigung, die Du für Menschen in Deinem Leben empfindest. Denke dabei an Situationen, in denen Du Dich vorbehaltslos geliebt fühltest, an Freunde, die Dir bedingungslos zur Seite standen, an Kinder, die Dir Vertrauen entgegenbrachten. Erwärme Dein Herz an diesen inneren Bildern und atme diese tief in Dich hinein. Spüre, wie sich Dein Herz mit Herzenswärme erfüllt und zu einem Zentrum von Güte und Liebe wird. Verweile in diesem angenehmen Zustand so lange, wie Du möchtest.

Wenn Du Dich bereit dazu fühlst, dann lass in einem nächsten Schritt diese Herzensgüte nach außen strahlen. Denke an Menschen in Deinem Leben, die unglücklich sind oder leiden. Nimm mit der Kraft Deines Herzens Kontakt mit diesen auf und sende ihnen Liebe und Herzenswärme. Spüre dabei, wie tief verbunden Dein Herz mit anderen Menschen ist.

Aus: Christa Spannbauer. Der Stimme des Herzens vertrauen. Erfüllt und achtsam leben. Herder Verlag, 2015.